Der Unternehmerbrief aus der Hauptstadt


70. Jahrgang / 38 vom 19.05.2016   << zum Inhaltsverzeichnis      
     
Europa | Brexit: Britische Illusionen
Der Brexit wird den wirtschaftlichen Niedergang Großbritanniens kräftig beschleunigen. Heute hat die britische Industrie vom biederen Typ (Optik, Lebensmittel, Getränke, Tabak, Papier, Textilien, Holzverarbeitung oder Möbel) noch einen BIP-Anteil von 9,4% - Deutschland: 25,9%. Um 2000 waren es in UK noch 20%. Die Hochtechnologie liefert das Ausland.
Die Produktivität britischer Unternehmen ist schon jetzt im Wettbewerbsvergleich niedrig. Sie liegt nach sachverständiger Schätzung um 20-30% unter Industrieländern wie den USA, Deutschland oder Frankreich - mit einem Durchschnittszuwachs von 1,5% p. a. im Zeitraum 2005/13 (Deutschland 4,7%). Die Investitionsquote des Landes (Bruttoanlage-Investitionen in Prozent des BIP) sinkt seit 2000 beharrlich. Heute liegt sie bei 17% (Deutschland: 20%).
Die Brexit-Befürworter verschweigen, wie schwer das ständig steigende Leistungsbilanzdefizit wiegt. 2014 betrug es 5,1% des BIP. Es drückt den Außenwert des Pfundes nach unten und damit den Preispegel des importhungrigen Landes nach oben. Nach einem Brexit wird Britannien als Investitionsziel verkümmern. Die Insel mit gerade mal 60 Mio. Konsumenten sperrt sich vom großen europäischen Markt aus.
Die innovations- und produktivitätsschwache britische Industrie steht für fast 60% aller Exporte. Sie wird die Zahlungsbilanz nicht retten können. Hört man, dass "hunderte von Unternehmern" die Forderung nach einem Brexit stützen, dann kommt ein zweites Motiv zutage: Abwehr der Kontinentalkonkurrenz, die auf Gewinne, Beschäftigung, Absatz, Margen und Bequemlichkeit drückt. Es herrscht die Hoffnung, dass man mit Dienstleistungen und Finanzindustrie den British way of life stabilisieren kann.
Fazit:
Vor hundert Jahren schon irrte die "Times", als sie nach tagelangem Nebel über dem Ärmelkanal titelte "The continent is isolated". Es war und ist genau umgekehrt. Die Briten werden bei Zustimmung zum Brexit einen fühlbaren Abschlag an Wohlstand, Prestige und Weltgeltung hinnehmen müssen.